Bonn Kurfürstliches Gärtnerhaus 2007

Einführung: Marietheres Hessel/ “Ausschnitte“

Christina zu Mecklenburg

Vielleicht beschert Ihnen, liebe Kunstinsider, liebe Freunde von Marietheres Hessel dieser Augenblick eine gewohnte Situation, eine vertraute, eine sich wiederholende Erfahrung: Sie weilen inmitten einer Ausstellung, gewahren Gemälde an den Wänden, probieren mit flüchtigen Blicken erste Schritte der Annäherung, zögerliche oder draufgängerische? Für die Protagonistin Marietheres Hessel hingegen erscheint die Lage allerdings in einem ganz anderen, besonderen Licht. Ihre, nach dem Motto „Ausschnitte“ ausgewählten Acrylgemälde erblicken zum ersten Mal das Licht der Öffentlichkeit. Darüber hinaus sind wir Zeuge der solistischen Premiere einer Künstlerin, die sehr bewußt ihre eigenen, gruppen- und lokalszenenunabhängigen Wege geht. Nicht nur von daher liegt heute etwas Vibrierendes, etwas Außergewöhnliches in der Luft. Wie Sie längst bemerkt haben, hat sich Marietheres Hessel radikal der abstrakten Farbmalerei verschrieben.

Und wie Sie wissen, verzichten rein abstrakte Bildwelten weitgehend auf Wirklichkeitskommentare, auf gegenständliche Rückbezüge und ähnliches. Damit steigen Anforderungen, Ansprüche. Schließlich erwarten wir, abgesehen von Niveau, Qualität, naturgemäß Spannung, Ansporn für die Fantasie und Inspirationen, die uns nachhause begleiten. Auch ist die Konkurrenz auf dem Gebiet abstrakter Malerei bekanntlich groß, das heißt das Auffinden einer Marktnische, einer einsamen Schneide oder eines sogenannten Alleinstellungsmerkmal schier unerläßlich. Diese Spur, den besonderen Klang der uns umgebenden Gemäldewelt wollen wir gemeinsam im Auge behalten.

Weil wir schlußendlich darauf fixiert sind, auch angesichts abstrakter Entwürfe nach konkreten Anhaltpunkten zu fahnden, wollen wir zunächst dieser Versuchung nicht widerstehen. In einem Gespräch zur Ausstellung „Auge in Auge mit der Farbe“ (Bezirksbibliothek Beuel, 2005) scheint uns die aus Trier stammende Künstlerin ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Sie erwähnt seinerzeit animiert zu sein durch den porösen Putz von Mauern, durch das Konglomerat farbiger Stadtimpressionen oder durch römische Baufassaden, die umweht werden Geschichtsträchtigkeit, Morbidität und einem Hauch materieller Verwesung. Es handelt sich seinerzeit um Acrylgemälde, die sich aus diffusen Farbflecken und einem geometrisch abgezirkelten Farbaggregat, einer autonomen Farbinsel zusammenfügen. Schon damals waren es im Grunde „Ausschnitte“, Splitter von nicht genau erschließbaren Architekturen, fragmentarisches Lokalkolorit von ebenfalls nicht identifizierbaren Orten, die Marietheres Hessel im Visier hatte.

Dazu ein noch immer relevantes Statement: „Mich interessiert die Schönheit, die keiner beachtet“. Diese Vorläufer des Jetztopus offenbaren bereits Auseinandersetzungen, die bis heute tragende Kompositionsschwerpunkte bleiben: Farbe als kaleidoskopischer Spiegel von heraufdämmernden oder verlöschenden Lichtbrechungen, belebte oder lebendige, zu Räumen und Hintergründen mutierende Flächen. Es geht darum, visuelle Phänomene, die Magie des Unscheinbaren, den Schattenflug der Dinge, das Zwielicht von Eindrücken malerisch transparentzu machen.

Das aus diesem Ansatz resultierende Vage, das Vakuum, das Mysteriöse, das Obskure, das

Fragwürdige unterminiert auch das gegenwärtige Solodebüt.

Dazu noch einige konkrete, biografische Fakten:

Marietheres Hessel ist examinierte Kunstwissenschaftlerin, Germanistin und hat parallel an ihrer Künstlerinnenkarriere gebaut, eine fundierte Ausbildung bei den Professoren Spies und Blecks in Düsseldorf absolviert. Harald Fuchs und dessen zeitweiliger Brennpunkt Bewegung und Licht sowie der Kölner Maler Bernd Petri und dessen pseudokonstruktivistische Arbeits- und Gedankenwelt zählen zu den, in begrenzter Hinsicht einflußreichen Kontakten der Künstlerin.

Vier Fakultäten spielen in der künstlerischen Entfaltung eine wichtige Rolle: Die Auseinandersetzung mit der Aquarelltechnik, Die experimentell geleitete Erkundung des Aktportraits, das Erobern grafischer Spielarten, die bis heute favorisierte Fotografie und der Einstieg in das Reich chinesischer Kalligraphiekünste.

Lange Zeit hat sich die Künstlerin den Aquarellkünsten verschrieben, Einblicke gewonnen in die geheimen Gesetzmäßigkeiten chemischer, physikalischer Farbreaktionen. Vielleicht entspringt daraus der hier häufig präsente Eindruck des Gleitens, Schwebens sowie ein Pionieranspruch auf dem Gebiet der Farberfindung. Im Atelier befindliche Schwarzweißaufnahmen beleuchten rätselhafte Raumsituationen, gespenstisch angehauchtes Ambiente, verdämmerte Bruchstücke einer Szenerie und eine differenzierte Vielfalt von Schwarzweißkontrasten und schließlich das Irritationsmoment: Kipp- oder Vexierbild.

Gegenstand von Fotografien sind häufig befremdliche Blicke aus dem Fenster, angeschnittene Blickwinkel, verborgene Winkel von unspektakulären Hinterhöfen. Schon in studienbedingten Aktzeichnungen klinkt sich die Künstlerin aus traditionellen Darstellungsweisen aus. Ihre Körper bestehen aus grautonigen Flächen, Wölbungen wie Brustpartien, Ellenbogen oder Kniescheiben werden plastisch pointiert durch weiße Auslassungen oder schwarze Partien. Auch hier machen sich doppelte Lesarten, Schwebezustände bemerkbar.

Gehen wir zurück zur jetzt ausstellungsbezogenen Suche nach gegenständlichen Urgründen, nach konkretem Humus. Eine Nebellandschaft zum Hineinwandern“, eine „Sehnsuchtslandschaft“ und der berüchtigte Malfokus „Weizenfeld“ befinden sich unter den „Ausschnitten“. Changierendes Nebelfluidum sowie der detaillierte, unter die Lupe genommene Blick auf die wogende Reife von, mit Sonnenstaub benetzten Weizenmeere stehen stellvertretend für zwei Rubriken von Kompositionen. Die Poesie der Stille waltet über sinnlich diktierten Farbräumen, die das Auge dazu einladen, sich vom malerischen Ambiente umgarnen zu lassen und auszuschweifen in das Nirwana

scheinbar unendlicher Raumtiefen. Kennzeichnend für diese lyrisch anmutende, – flüchtig an William Turner, Gotthard Graubner, Gerhard Richter erinnernde – Werkreihe ist ein extrem reduzierter gleichwohl ausdifferenzierter, und auf diese Weise polyglotter Farbwortschatz. Siehe Grauklaviaturen…

Eine andere Grammatik der Farben verbirgt sich hinter Arbeiten, wo gestisch verwegener, freier Pinselduktus innerhalb von Miniaturausschnitten dominiert. Das in zwei Licht- oder Tagesstimmungen aufgefächerte Weizenfeld komprimiert mit seinen züngelnden Lichtflammen energetische Wechselspiele von Natur und Licht.

Andere, imaginäre Landschaftsfragmente teilen Bewegungen, Regungen, und vielfach geheime Spiegelungen von Feuer, Wasser und Luft oder das Kräftespiel von Naturgewalten schlechthin mit.

Kosmische, sphärische, ätherische ebenso wie erdengebundene Prozesse, Vorgänge, vorüberziehende Zustände werden durch expressive, dramatische Pinselzüge, durch intensives Farbenklima evoziert. Rhythmisiertes Farbgeschehen, wie ein in ultramarin getauchtes Szenario oder grafisch diktierte Liniengewebe legen Analogien zu musikalischen Kompositionen nahe.

Etliche Semester hat die Künstlerin am sinologischen Institut der Universität Bonn verbracht. Kalligraphisch angehauchte Pinselschwünge, der auf Anhieb sitzende, wie ein treffsicher geführtes Lasso geschleuderte Pinselimpuls treffen Sie vielfach an. Von hier aus ist der Sprung nicht weit zu:

Ornamentrelikt, Chiffre, grafischem oder malerischem Stenogramm (Welle, Flamme, Pflanzenteile) sowie zu anderen, auch figurativen Verknappungen (Phantom) und anderen, strukturbildenden Verschlüsselungen oder Extrakten.

Zur Farbe:

Jede einzelne Farbfacette entspringt einer sorgfältigen Suche nach dem richtigen Ton. Ins Auge stechen vor allen Dingen mattierte, teils welke, gebrochene oder verwitterte Koloraturen. Gleichermaßen signifikant sind komplexe Farbüberlagerungen, deren Ensemble von opaken Farbmembranen zehrt. Bilder mit hohem Abstraktionsgrad zeigen hauchdünne, fragile Pinselbahnen und einen vielschichtigen, kompakten Unterbau. Zu Kondensaten verdichtet sind hier scheinbar Sekundenbruchteile von Ahnungen des Superben, nach Virginia Woolf sogenannte „moments of being“ (James Joyce erfindet dafür den Terminus „Epiphanie“, „Durchscheinung“), wo Sinnlichkeit, Schönheit, Ästhetik und vielleicht in unsentimentaler Manier eine Ahnung von Ewigkeit aufscheinen.Man kann ein Großteil der Studien freilich auch in die Nähe von Traum, Chimäre, Trance oder Fata Morgana, Halluzination rücken. In diesen, von schierem Farbgeschehen komprimierte Eindruck vorüberziehender, schwadenartiger Bewegungsausschnitte spielen die Themen Zeit, Vanitas, Hinfälligkeit, Kurzlebigkeit, oder wie der alttestamentarische Tempellehrer Kohlet sagt, der lebensallgegenwärtige „Windhauch“ ein. In diesen ätherischen Bildwelten kann man aufgrund multipler Farbtransparenzen, Farbenschleier und Farbschatten diese ausgeklügelten, vielfach polar entgegen gesetzten, kontrapunktischen Wechselspiele zwischen Fond und Oberfläche exemplarisch nachvollziehen. Neben ruhigen, kontemplativ getönten Untergründen sind umtriebige, dynamisch aufgewirbelte Basso Continuo Passagen oder quasi Knistern im Unterholz (siehe Liniengemetzel) zu registrieren. Schließlich fällt noch eine weitere Gemäldekategorie in den Blick. Dabei handelt es sich ebenfalls um abstrakte Landschaftsprojektionen, wie etwa die, in sanfte, verwaschene Grünpartien, warme Erdtonklaviaturen und verblichene Burgund getauchte Trilogie. Die drei Partituren reflektieren eine allerdings menschenleere Pastorale wie man sie etwa von meist symbolisch aufgeladenen Hintergrundlandschaften alter Meister beispielsweise Van Eyck kennt.

Es mag aufschlußreich sein zu wissen, daß sich die Literaturwissenschaftlerin Marietheres Hessel ausgiebig mit dem Komplex Romantik befaßt hat. Ihre Staatsarbeit widmet sich Peter Rosei und dessen literarischen Landschaften. In etlichen Imaginationslandschaften greifen Versteckspiele“, Paraphrasierungen, Phantasmagorien von oder zu romantischem Gedankengut. Wir registrierten bereits eine weit gespannte Kontrastskala: warm, kalt, hell, dunkel, kontemplativ, dramatisch, mysteriös, sichtbar, tiefschürfende Melancholie, geronnene Heiterkeit, Interaktion zwischen Vorder- und Hintergrund. Dazu gesellen sich gelegentlich weitere, in Bildtimbre und Bildaura greifende Polaritäten und Dualitäten hinzu.

Die Trilogie projiziert ein Arkadien mit weichen, fließenden Konturen, gedämpften Lichtspuren, verschwommenen, in Auflösung begriffenen Strukturen; andererseits deutet das verwitterte, morsche Farbenflair auf Hinfälligkeit und Vergänglichkeit, Transformation dieses augenscheinlichen Edens hin.

So spielen auch „Sehnsuchtslandschaft“ oder visionär und unerreichbar anmutende Architekturen mit Vorstellungen von Nähe und Ferne; deutbar sind sie gleichermaßen als ein entferntes Echo romantischer Trübsal, Wehmut, interpretierbar als malerische Übersetzung der legendären Suche nach der blauen Blume, nach Weite, Freiheit, Entgrenzung oder als Kommentar zu einer manisch-depressiven Gesinnung, die sich zwischen „Nichts und alles“, „Stirb und werde“, zwischen Abgrund und Himmelhöhen bewegt.

Gewißlich kann man noch mehr Stimuli, ein Plural an Inspirationsmaterialien diesem anspruchsvollen Gemäldeensemble entlocken, wenn man die Devise „Kunst entsteht im Dialog mit dem Betrachter“ beherzigt.

Man kann getrost, wie es Marietheres Hessel sogar explizit gestattet, das Kontingent skizzierter Prozesse und Verhältnisse (wie etwa Antagonismen, Konflikte, Reibungen, konstruktive und destruktive, passive und aktive Komponenten auf Farb- und Formenebene) gesellschaftlich wie ebenso psychologisch, als Spiegel innerer Erfahrungswelten ausdeuten. Aber im Grunde handelt es sich hier primär um eine ausgefeilte Augensprache, also eine Artikulationsform, die auf Augenantwort oder Gehörrezeption (audiovisuelle Komponenten) geeicht und mit unserer ganz anders gearteten Mundsprache schwerlich dingfest zu machen ist.

Und Marietheres Hessel ist schlußendlich eine Vollblutmalerin, die im kompositorischen

Entstehen mit dem Sehen beginnt und im Sehen entstehen läßt.

Machen wir uns also flugs auf, um in die Farbfelder und Farbräume der Malerin hinein zu stürmen.